Warum das Wandern eine Tätigkeit der Zukunft ist

Wandern, wandeln, sich wandeln, sich verändern. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Wandern ist: wiederholt wenden, hin und her gehen, seinen Standort ändern. Und genau das ist es, was unsere Gesellschaft heute braucht. Menschen, die in der Lage sind Dinge differenziert von verschiedenen Seiten zu betrachten, die in der Lage sind ihre Standpunkte zu verändern und die unsere Lebensgrundlage, die Natur, als Kompass und Maßstab für ihr Denken und Handeln gewählt haben. Die Verrohung der politischen und gesellschaftlichen Diskussionen ist beängstigend.

In der digitalen Welt gibt es nur plus und minus, Strom fließt, Strom fließt nicht, ja oder nein, schwarz oder weiß. In der wirklichen Welt gibt es Schattierungen, Zwischentöne, Graubereiche, Dinge die nicht definierbar sind. Der Wanderer, der hin und her geht, der seinen Standort ändert, ist in der Lage die Zwischentöne wahrzunehmen und zu verstehen.

Wandern schult Lebensführungskompetenz!
Ich meine tatsächlich die Wanderfreundinnen und Wanderfreunde, die sich auf markierten Wegen bewegen und vielleicht zwischendurch einmal ins Unterholz abbiegen, die alleine, auf eigene Faust wandern, oder zum Beispiel in der deutschen Wanderjugend organisiert sind. Jede Wanderung ist ein kleines Abenteuer.

Man ist nie ganz sicher, ob man den Weg findet, das Wetter hält, das Ziel so attraktiv ist, wie erwartet. Der Zufall, von den alten Griechen als Eingriff der Götter bezeichnet, hält ständig Überraschungen bereit. Ein Reh, das über den Weg springt, ein Regenbogen, eine schöne Blume, ein musikalischer Vogel oder etwas ganz anderes. Eine Wanderung ist immer eine kleine Lebensübung. Schon die Planung verlangt Kompetenzen, die im ganzen menschlichen Leben gebraucht werden. Man braucht ein Ziel. Doch das Ziel allein genügt nicht. Ich suche mir den Weg aus, der meiner Kondition, meinen Leidenschaften, meinen Bedürfnissen entspricht. Wenn ich mit dem GPS-Gerät navigiere, braucht das Gerät mindestens drei Satelliten zur Standortbestimmung. Auch im Leben sollte ich hin und wieder eine Standortbestimmung vornehmen und dazu wie ein Satellit mit Abstand unter verschiedenen Aspekten meine Situation betrachten. Der Kompass für das Leben ist die Natur. Nach ihr richte ich mich aus.

Eine Wanderung ist immer eine Auseinandersetzung mit der Natur. Zunächst mit der Natur des eigenen Körpers. Wie gut ist meine Kondition, meine Trittsicherheit, mein Durchhaltevermögen? Und dann mit dem Naturraum, der durchwandert wird. Der aufmerksame Wanderer nimmt die Veränderungen der Umgebung wahr. Er bekommt ein Gefühl für intakte und gestörte Ökosysteme. Er lernt im „Buch Natur“ zu lesen, die Sprache der Natur zu verstehen. Das ist die Voraussetzung für nachhaltiges denken und handeln.

Wandern ist Kultur!
Wanderungen sind Gegenstände der Literatur. Heinrich Heine beschreibt in seiner Harzreise auf sehr unterhaltsame Weise eine Wanderung in den Harz. Theodor Fontane entfaltet in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg Geschichte und Eigenheiten eines Landstrichs. Goethe meint: „Nur wo ich zu Fuß war, bin ich wirklich gewesen. Jean Jacques Rousseau, der Wegbereiter der französischen Revolution und Vater der Reformpädagogik, findet in seinen „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ den Zustand des Glücks in der Natur. Der griechische Philosoph Platon gründete in den Gärten des Akademos die erste Philosophenschule, die erste Akademie, unterrichtet wurde unter Bäumen. Buddah verbrachte die Hälfte seines Lebens im Freien.

Der Wanderprediger Jesus bewegte sich zu Fuß durch die Länder Galliläa, Samaria und Judäa. Im Mittelalter verlangten die Handwerkerzünfte die Wanderung als Voraussetzung zur Meisterprüfung. Der Geselle musste wandern, um am Ende so bewandert zu sein, dass er Meister werden konnte. Viele Denkerinnen und Denker verweisen auf die Natur als Inspirationsquelle.

Wandern ist nachhaltig!
Der Begriff Nachhaltigkeit beschreibt ganz gut die Denkweise, die die Natur als Maßstab akzeptiert. Nachhaltigkeit ist heute in aller Munde. Sämtliche Parteien operieren mit Nachhaltigkeitszielen. Viele Industriebetriebe haben die Nachhaltigkeit auf ihre Fahnen geschrieben. Die Gefahr der Verwässerung des Begriffs ist groß, deshalb sollten Wanderfreundinnen und Wanderfreunde die Stimme erheben und die Chance, die in der Verwendung des Begriffs liegt, nicht verstreichen lassen. Die Nachhaltigkeit wurde 1713 im sächsischen Freiberg bei Dresden von Carl von Carlowitz erfunden mit der Forderung, nicht mehr Holz zu schlagen als nachwachsen kann. Dieser Gedanke wurde im 18. Jahrhundert tatsächlich umgesetzt. Wälder wurden kartiert, Bestände analysiert, Pflanzpläne erstellt. Im 19.Jahrhundert mit Beginn der industriellen Revolution tritt die Nachhaltigkeit in den Hintergrund.

Die fossilen Brennstoffe, Kohle, Erdöl und Erdgas schienen, in unendlicher Menge vorhanden zu sein. Nachwachsen können fossile Brennstoffe nicht. Der Gedanke der Nachhaltigkeit hatte zunächst ausgedient und dem Gedanken des grenzenlosen Wachstums Platz gemacht. Heute sind wir an einem Punkt angekommen, wo die fossilen Brennstoffe zu Ende gehen und wir die wenigen noch vorhandenen unberührt lassen sollten, um das Klima nicht weiter zu erwärmen. Der Gedanke der Nachhaltigkeit ist wieder aktuell. Johann Heinrich Campe erklärt in seinem deutschen Wörterbuch von 1806 das Wort Nachhalt folgendermaßen: „Nachhalt ist das, woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält.“ Wenn alles andere nicht mehr hält, wenn unsere Lebensgrundlage wegbricht, wenn die Natur aus dem Gleichgewicht gerät und für uns Menschen keinen Platz mehr bietet, dann gibt es nichts mehr, an das wir uns halten könnten. Wir sollten uns die Natur wieder zum Freund machen.

Wir sollten wieder auf die Natur hören, um unsere menschliche Existenz nicht zu gefährden. Wir sollten hin und her gehen, uns immer wieder umwenden und unsere Standpunkte ändern. Wir sollten wandern, um die Herausforderungen der nahen Zukunft bewältigen zu können. Wandern ist nicht nur eine sinnvolle sportliche Betätigung, wandern setzt auch eine Geisteshaltung voraus, die offen ist für die Veränderung der Natur und die sich um die Natur bemüht. Wandern ist nachhaltig! Wandern bildet! Wandern ist die Tätigkeit, die uns helfen kann uns wieder als Teil der Natur zu begreifen und in und mit der Natur zu leben.

Text: Stefan Österle